Artikel 4 des Protokolls Nr. 4 zur Europäischen Menschenrechtskonvention kodifiziert das Verbot der Kollektivausweisung von Ausländern einschließlich der Staatenlosen. Dieses Verbot stellt das Gegenstück zu dem in Artikel 3 Abs. 1 enthaltenen Verbot der (kollektiven) Ausweisung eigener Staatsangehöriger dar. Aus dem Zusammenhang der beiden Bestimmungen ergibt sich, daß die Vertreibung einer Bevölkerungsgruppe auch nicht durch ihre vorherige Ausbürgerung juristisch gerechtfertigt werden kann.
In Bezug auf dieses Verbot findet Artikel 13 der Menschenrechtskonvention Anwendung, wonach dem durch eine Verletzung eines der Verbote Betroffenen in dem fraglichen Staat ein wirksamer innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stehen muss. Der Verletzte kann gegen den Staat auch von dem internationalen Rechtsbehelf der Individualbeschwerde nach Maßgabe des Abschnittes II der Europäischen Menschenrechtskonvention Gebrauch machen.
Unter einer Kollektivausweisung im Sinne des Artikels 4 des Protokolls Nr. 4 wird jede Maßnahme verstanden, die Ausländer als Gruppe zwingt, ein Land zu verlassen, mit Ausnahme solcher Maßnahmen, die nach einer angemessenen und objektiven Prüfung der individuellen Situation jedes einzelnen Ausländers getroffen werden.
Nach Artikel 6 Absatz 1 des Protokolls Nr. 4 (der in seiner Fassung dem Artikel 5 des Zusatzprotokolls entspricht) sind die in diesem Protokoll enthaltenen Gewährleistungen und Verbote als Zusatzartikel zur Europäischen Menschenrechtskonvention anzusehen und alle Bestimmungen der Konvention dementsprechend anzuwenden. Dies bedeutet insbesondere auch, daß Konventionsbestimmungen mit allgemeinem Inhalt auf die die in dem Protokoll Nr. 4 beschriebenen Gewährleistungen und Verbote Anwendung finden. Auch die Verbote von (Kollektiv-)Ausweisung und Vertreibung sind damit Menschenrechte im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention und genießen damit auch den dort verbürgten Schutz.
Artikel 3 des Protokolls Nr. 4 schützt die eigenen Staatsangehöriger eines Staates sowohl vor individueller wie vor kollektiver Ausweisung. Demgegenüber schützt Artikel 4 des Protokolls Nr. 4 Ausländer und Staatenlose nur vor einer Kollektivausweisung und enthält keine Bestimmungen über die Einzelausweisung von Ausländern. Derartige Bestimmungen waren zwar in einem ersten Entwurf noch vorgesehen, wurden dann jedoch wieder aus dem Protokoll entfernt, zum einen weil diese Frage bereits in Artikel 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens geregelt worde war, zum anderen aber auch, weil die Gründe für eine Individualausweisung nicht beschränkt werden sollten. Vielmehr sollte, so die Überzeugung bei der Verabschiedung des Protokolls Nr. 4, der betroffene Staat allein für die Beurteilung der Gründe zuständig sein, die nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften eine Ausweisung rechtfertigen können und die nicht der Kontrolle durch die in der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehenen Organe und Verfahren unterliegen sollten.
Der Schutz vor Kollektivausweisungen greift nur für solche Ausweisungen, die nach Inkrafttreten des Protokolls Nr. 4 erfolgen. Die Artikel 4 sowie 3 Abs. 1 sagen dagegen nicht zu Kollektivausweisungsmaßnahmen aus, die in der Vergangenheit – sei es etwa in der Nazizeit oder durch andere Staaten nach dem 2. Weltkrieg – getroffen wurden. Weder müssen diese nach dem Protokoll Nr. 4 rückgängig gemacht werden, noch werden sie durch das Protokoll Nr. 4 gebilligt.
Protokoll Nr. 4 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, durch das gewisse Rechte und Freiheiten gewährleistet werden, die nicht bereits in der Konvention oder im ersten Zusatzprotokoll enthalten sind
Artikel 4 – Verbot der Kollektivausweisung ausländischer Personen
Kollektivausweisungen ausländischer Personen sind nicht zulässig.
Eines der ersten Urteile, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2002 zum Verbot der Kollektivausweisungen gefällt hat, betraf den Fall „Conka gegen Belgien“1, in dem sich ein der Volksgruppe der Roma angehöriger slowakischer Staatsangehöriger gegen seine Abschiebung aus Belgien wehrte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied hier, dass das belgische Abschiebungsverfahren keine ausreichenden Garantien aufwies, dass die persönlichen Umstände jedes einzelnen Betroffenen tatsächlich und individuell berücksichtigt worden waren. Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte machte es das in Belgien angewandte Verfahren unmöglich, alle Zweifel auszuräumen, dass es sich um eine Kollektivabschiebung handelte. Die Zweifel wurden vielmehr nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dadurch verstärkt,
- dass die zuständigen Behörden zuvor Anweisungen zur Durchführung solcher Maßnahmen erhalten hatten;
- dass alle betroffenen Ausländer aufgefordert worden waren, zur gleichen Zeit auf dem Polizeirevier zu erscheinen;
- dass die an sie gerichteten Aufforderungen, das Land zu verlassen und die Haftbefehle alle den gleichen Wortlaut hatten;
- dass es war sehr schwer war für die Ausländer, einen Rechtsanwalt zu kontaktieren; und schließlich,
- dass das Asylverfahren zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen war.
Fünf Jahre später, im Jahr 2007, ging es in dem Verfahren „Sultani gegen Frankreich“2 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wiederum um eine Verletzung des Verbots von Kollektivausweisungen in Zusammenhang mit Asylverfahren. In diesem Verfahren sah der Europäische Gerichtshof keine Verletzung des Artikels 4 des Protokolls Nr. 4 durch Frankreich, da die französischen Behörden bei der Ablehnung von Asylanträgen nicht nur die Gesamtsituation in Afghanistan berücksichtigt hatten, sondern auch die Aussagen des Beschwerdeführers über seine persönliche Situation und die angeblichen Risiken für ihn im Falle seiner Rückkehr. Die Prüfung seiner Situation erfolgte damit nach Ansicht des EGMR individuell und ergab ausreichende Gründe für seine Abschiebung.
Im Jahr 2013 schließlich stellte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Verfahrren „Hirsi Jamaa u.a. gegen Italien nicht nur einen Verstoss Italiens gegen Artikel 4 des Protokolls Nr. 4, sondern aufgrund der Gefahr einer unmenschlichen Behandlung der Beschwerdeführer in Libyen wie auch aufgrund der möglichen Abschiebung in ihre Herkunftsländer Eritrea und Somalia auch einen Verstoß Italiens gegen Artikel 3 EMRK fest3. In diesem Fall waren 24 Flüchtlinge aus Eritrea und Somalia von Libyen aus nach Italien aufgebrochen und wurden im Mai 2009 auf hoher See südlich der italienischen Insel Lampedusa von der italienischen Küstenwache aufgegriffen und anschließend nach Libyen zurückgebracht.
- EGMR, Urteil vom 05.02.2002 – 51564/99 [↩]
- EGMR, Urteil vom 20.09.2007 – 45223/05 [↩]
- EGMR, Urteil vom 23.02.2012 – 27765/09 [↩]
Bildquellen:
- Mahnmal für die Vertreibung auf Schloß Burg, Solingen: Frank Stursberg