In Artikel 7 beschreibt die Menschenrechtskonvention das Justizgrundrecht des „Nulla poena sine lege“, also den Grundsatz, dass eine eine Strafvorschrift nicht rückwirkend eingeführt oder verschärft werden darf.
Das Verbot einer Bestrafung ohne Gesetz verbietet nicht nur die rückwirkende Einführung einer Strafvorschrift, sie verbietet auch eine Gesetzesanalogie zulasten des Angeklagten (nulla poena sine lege stricta). Bei einer bestehenden Strafbarkeitslücke darf eine Verurteilung also auch nicht aufgrund einer analogen Anwendung einer vergleichbaren Strafrechtsnorm erfolgen.
Die Bestimmung der Strafwürdigkeit und Strafbarkeit eines Verhaltens ist damit ausschließlich dem Gesetzgeber zugewiesen, der alle Strafvorschriften positiv gesetzlich festlegen muss. Demgegenüber besteht die Strafgewalt der Gerichte nur innerhalb dieses gestzlich festgelegten Rahmens, ein Gericht kann also nicht selbst bestimmen, ob es ein Verhalten als strafbar ansieht.
Der Grundsatz des Nulla poena sine lege gilt freilich nur zugunsten des Angeklagten. Nicht verboten ist dagegen die rückwirkende Aufhebung einer Strafvorschrift oder die rückwirkende Abmilderung einer strafrechtlichen Sanktion. Auch eine Analogie zugunsten des Täters wird durch Art. 7 EMRK nicht ausgeschlossen.
Im deutschen Recht ist dieser Grundsatz in § 1 StGB beschrieben und in Artikel 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich abgesichert.

Eine Ausnahme von diesem strikten Positivismus des Strafrechts sieht die „Nürnberg-Klausel“ des Artikel 7 Abs. 2 EMRK für den Fall vor, dass eine Strafbarkeit „nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ gegeben war. Mit dieser Ausnahme will die Konvention eine Bestrafung von Tätern ermöglichen, die mit staatlicher Billigung gehandelt haben. Vorbild waren hier augenscheinlich die erst ein Jahr vor der Verabschiedung der Menschenrechtskonvention abgeschlossenen Nürnberger Prozesse gegen Verantwortlichen der Nazi-Diktatur. Diese Nürnberg-Klausel des Artikel 7 Abs. 2 EMRK knüpfte an das von den Alliierten erlassene Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 an.
Ein ähnliches Verständnis lag auch der Radbruch’schen Formel zugrunde, die der deutsche Rechtsphilosoph und ehemaligen Reichsjustizminister Gustav Radbruch angesichts des formal gesetzeskonformen Unrechts des Naziregimes formulierte, und nach der das Rückwirkungsverbot keine Anwendung finden kann für Taten, die nur wegen eines „unerträglich ungerechten Gesetzes“ legal sind oder bei denen das Gesetz die im Begriff des Rechts grundsätzlich angelegte Gleichheit aller Menschen aus Sicht des Interpreten „bewusst verleugnet“.
Die Anwendung dieser „Nürnberg-Klausel“ war in Deutschland gleichwohl zunächst ausgeschlossen. Artikel 7 Abs. 2 EMRK knüpfte an das von den Alliierten erlassene Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 an. Gleichwohl war ihre Geltung für Deutschland durch einen 1952 von der Bundesregierung erklärten Vorbehalt ausgeschlossen. Die junge Bundesrepublik wollte so verhindern, dass das NS-Rechtssystem unter dem Gesichtspunkt der Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien infrage gestellt wurde.
Diese Einstellung änderte sich in Deutschland erst nach dem Revolution in der DDR und der Wiedervereinigung. Und so bediente man sich – gebilligt durch das Bundesverfassungsgericht – bei der Aufarbeitung des DDR-Unrechts, insbesondere des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze, EMRK-konform der Radbruch’schen Formel.
Artikel 7 – Keine Strafe ohne Gesetz
- Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurÂteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.
- Dieser Artikel schließt nicht aus, dass jemand wegen einer Handlung oder UnterÂÂlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den ziviliÂsierten Völkern anerkannten allgemeinen RechtsÂgrundsätzen strafbar war.
Bildquellen:
- Landgericht Bremen: Bildrechte beim Autor